2. Sommerfilm im Wandelgarten Ein historisches Experiment: “Das Wunder von Wörgl”
Luisenstrasse 110
Wuppertal
https://www.arbeit-kultur-wtal.de/3‑sommerfilm-im-wandelgarten-das-wunder-von-woergl-02-august-21–00-uhr/
Es ist nicht bekannt, wem die verbotene politische Zeitschrift gehörte, die ein österreichischer Lokomotivführer im Jahr 1916 in der Nähe der Front des Ersten Weltkriegs findet. Einem friedensbewegten Major vielleicht, einem linken Sanitäter, einem ökonomisch interessierten Feldwebel? Auch weiß niemand, was passiert wäre, hätte der Lokführer mit dem Namen Michael Unterguggenberger das Heft liegen gelassen und sich auf das beschränkt, was der Kaiser von Österreich von ihm erwartete, hier in Galizien, in der heutigen Ukraine: lange Züge mit Munition und Truppen in die vorderen Linien bringen. Mithelfen, die Russen zu besiegen.
Michael Unterguggenberger aber unterbricht den Dienst am Vaterland für einen Augenblick. Er hebt die Zeitschrift mit dem seltsamen Namen Der Physiokrat auf und beginnt zu lesen.
Er bringt damit eine Geschichte in Gang, die sich rund 15 Jahre später, während der Weltwirtschaftskrise, um die halbe Erde verbreiten wird. Von einem nie da gewesenen Experiment werden die Zeitungen schreiben, in Deutschland, Frankreich, Amerika. Vom erstaunlichen Scharfsinn eines Dorfbürgermeisters namens Michael Unterguggenberger. Und immer wieder: vom Wunder von Wörgl.
Es ist eine Geschichte über die ebenso gefährliche wie heilsame Kraft des Geldes. Ausgerechnet heute, in einer Zeit neuer Finanzkrisen und Spekulationsblasen, kennt sie fast niemand mehr.
Die Hauptfigur kommt am 15. August 1884 in Tirol zur Welt. Michael Unterguggenberger ist das Kind eines einfachen Arbeiters. Das Lehrgeld für die Ausbildung zum Mechaniker borgt der Junge sich zusammen. Sein Glück ist die Eisenbahn. Im Bauerndorf Wörgl kreuzen sich das Inntal und das Brixental, der ideale Ort für einen Bahnknotenpunkt. Hier suchen sie Heizer, Handwerker, Hilfsarbeiter. Hier findet der junge Unterguggenberger eine Anstellung, nach wenigen Jahren steigt er zum Lokführer auf.
Es gibt ein Foto aus jener Zeit: Unterguggenberger vor einer Dampflokomotive. Vor ihm steht ein Schraubenschlüssel, der ihm von den Füßen bis zur Hüfte reicht. Solch kolossales Werkzeug ist nicht unüblich damals, einerseits, aber der Schraubenschlüssel wirkt auch deswegen so riesig, weil Unterguggenberger ein mickriger Mann ist, mager, kaum größer als 1,60 Meter. Viel Kraft hat er nicht. Reden aber kann er. 1904 wird er Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, später überzeugt er Hunderte von Kollegen, der Wörgler Ortsgruppe der Eisenbahnergewerkschaft beizutreten.
Unterguggenberger ist keiner, der Scheu vor eigenen Gedanken hat. Mit zwölf Jahren musste er die Schule verlassen? Na und, dann liest er jetzt eben umso mehr: Marx und Engels, die Biografie des amerikanischen Autobauers Henry Ford, Analysen der Industrialisierung und des Kapitalismus.
So fängt er an, sich mit dem Geld zu beschäftigen. Auf theoretische Art, selbst hat er ja kaum welches.
Von der Revolution hält der Sozialdemokrat Unterguggenberger nicht viel, dafür ist der 4000-Einwohner-Ort Wörgl zu klein. Wer mit dem Zellulosefabrikanten und dem Brauereibesitzer im Wirtshaus sitzt, schlägt ihnen nicht den Kopf ein. Das Geld, glaubt Unterguggenberger, müsste von selbst zu den Arbeitern fließen. Nur, wie schafft man das?
Diese Frage ist es, die Michael Unterguggenberger durch den Kopf geht auf seinen Eisenbahnfahrten durch das Habsburgerreich. Von dieser Frage ist auch in der politischen Zeitschrift die Rede, die da auf einmal vor ihm liegt, mitten im Krieg.
Der Physiokrat erscheint monatlich, in einer kleinen Auflage von etwa 600 Stück. Herausgeber und einer der wichtigsten Autoren ist Silvio Gesell, geboren 1862, ein Kaufmann, Vegetarier und ökonomischer Autodidakt mit einer seltsamen Idee: Er behauptet, das Grundübel aller Finanzen liege darin, dass Geld anders sei als Eisen. Man kann es lagern, solange man will. Es fängt nicht an zu rosten.
Im Gegenteil, es gewinnt an Wert. Wer sein Geld hortet, wer es anlegt, kann Zinsen kassieren und Zinseszinsen und dabei vergessen, dass irgendjemand die Rendite erwirtschaften muss. Arbeiter, Angestellte, Manager. Solange die Unternehmen genug Gewinne machen, geht alles gut. Aber irgendwann, da werden der größte Fleiß und die besten Ideen nicht reichen, um Zinsen und Zinseszinsen zu zahlen, und dann platzen die Kredite, gehen die Firmen pleite.
Mit dem Ende des Krieges werde das Elend nicht vorbei sein, ahnt Gesell. Nicht Kanonen und Panzer würden die Menschen dann ins Unglück stürzen, sondern Börsen und Banken.
Der Physiokrat fällt der Kriegszensur zum Opfer. Gelesen wird er trotzdem. Unterguggenberger findet Gesells Ansichten interessant, überzeugt ist er noch nicht. Viele Leute behaupten vieles in diesen letzten Tagen der Monarchie. “Gesell war der Meinung, das Geld dürfe der Vergänglichkeit alles Irdischen nicht länger entzogen werden, dann werde es der Welt besser gehen”, sagt der deutsche Ökonom und Gesell-Experte Werner Onken. Eine ganze Theorie konstruiert Gesell um diesen Gedanken herum. Die sogenannte Freigeldlehre. Aber was soll das bedeuten, vergängliches Geld? Wie bringt man Geld zum Rosten?
Jahre später, 1929, passiert das, was Gesell vorausgesehen hat. In New York bricht die Börse zusammen. Spekulanten stürzen sich aus dem Fenster, Banken gehen pleite. Bald ziehen hungernde Arbeitslose durch Amerika, während die Lokführer ihre Züge mit Weizen befeuern, weil niemand mehr Getreide kauft.
Unterguggenberger liest in der Zeitung von der großen Krise. Er überlegt: Wie bringt man es fertig, dass das Geld wieder zirkuliert, dass es bei den einfachen Leuten ankommt, anstatt ewig auf irgendwelchen Konten herumzuliegen? Nun könnte man meinen, dass die ökonomischen Grübeleien des Michael Unterguggenberger für den Gang der Dinge eher unwichtig seien. Was kümmert es die Welt, welche Antworten ein Tiroler Lokomotivführer auf finanztheoretische Fragen gibt. Unterguggenberger aber ist längst mehr als nur Lokomotivführer.
Österreich ist jetzt eine Demokratie, und Unterguggenberger sitzt für die Sozialdemokraten im Gemeinderat. Er führt dort die Fraktion, seit den Wahlen von 1928 sind Sozialdemokraten und Bürgerliche in Wörgl gleich stark. Es besteht ein Patt, und anders als heute üblich entscheidet nicht eine Neuwahl über das neue Gemeindeoberhaupt, sondern das Glück. Beim ersten Mal, 1928, fällt das Los auf den Kandidaten der Bürgerlichen, im Dezember 1931 aber wird erneut das Los gezogen. Unterguggenberger gewinnt. Er, der Arbeitersohn, wird Bürgermeister von Wörgl.
Gerade noch rechtzeitig, muss man sagen. Denn die große Wirtschaftskrise, vor deren Hintergrund sich das Wörgler Wunder ereignen wird, hat, von Amerika kommend, längst Mitteleuropa erreicht. Auch Wörgl. Die Zellulosefabrik, die einst 400 Menschen beschäftigte, ist stillgelegt, die Brauerei kämpft ums Überleben, junge Männer mit braunen Hemden und Hakenkreuzbinden marschieren durch die Marktgemeinde und hinauf zu den Almen. Bei den Landtagswahlen 1932 wird die NSDAP in Österreich fast zwanzig Prozent der Stimmen erhalten.
Er bringt damit eine Geschichte in Gang, die sich rund 15 Jahre später, während der Weltwirtschaftskrise, um die halbe Erde verbreiten wird. Von einem nie da gewesenen Experiment werden die Zeitungen schreiben, in Deutschland, Frankreich, Amerika. Vom erstaunlichen Scharfsinn eines Dorfbürgermeisters namens Michael Unterguggenberger. Und immer wieder: vom Wunder von Wörgl.
Es ist eine Geschichte über die ebenso gefährliche wie heilsame Kraft des Geldes. Ausgerechnet heute, in einer Zeit neuer Finanzkrisen und Spekulationsblasen, kennt sie fast niemand mehr.
Die Hauptfigur kommt am 15. August 1884 in Tirol zur Welt. Michael Unterguggenberger ist das Kind eines einfachen Arbeiters. Das Lehrgeld für die Ausbildung zum Mechaniker borgt der Junge sich zusammen. Sein Glück ist die Eisenbahn. Im Bauerndorf Wörgl kreuzen sich das Inntal und das Brixental, der ideale Ort für einen Bahnknotenpunkt. Hier suchen sie Heizer, Handwerker, Hilfsarbeiter. Hier findet der junge Unterguggenberger eine Anstellung, nach wenigen Jahren steigt er zum Lokführer auf.
Es gibt ein Foto aus jener Zeit: Unterguggenberger vor einer Dampflokomotive. Vor ihm steht ein Schraubenschlüssel, der ihm von den Füßen bis zur Hüfte reicht. Solch kolossales Werkzeug ist nicht unüblich damals, einerseits, aber der Schraubenschlüssel wirkt auch deswegen so riesig, weil Unterguggenberger ein mickriger Mann ist, mager, kaum größer als 1,60 Meter. Viel Kraft hat er nicht. Reden aber kann er. 1904 wird er Mitglied der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, später überzeugt er Hunderte von Kollegen, der Wörgler Ortsgruppe der Eisenbahnergewerkschaft beizutreten.
Unterguggenberger ist keiner, der Scheu vor eigenen Gedanken hat. Mit zwölf Jahren musste er die Schule verlassen? Na und, dann liest er jetzt eben umso mehr: Marx und Engels, die Biografie des amerikanischen Autobauers Henry Ford, Analysen der Industrialisierung und des Kapitalismus.
So fängt er an, sich mit dem Geld zu beschäftigen. Auf theoretische Art, selbst hat er ja kaum welches.
Von der Revolution hält der Sozialdemokrat Unterguggenberger nicht viel, dafür ist der 4000-Einwohner-Ort Wörgl zu klein. Wer mit dem Zellulosefabrikanten und dem Brauereibesitzer im Wirtshaus sitzt, schlägt ihnen nicht den Kopf ein. Das Geld, glaubt Unterguggenberger, müsste von selbst zu den Arbeitern fließen. Nur, wie schafft man das?
Diese Frage ist es, die Michael Unterguggenberger durch den Kopf geht auf seinen Eisenbahnfahrten durch das Habsburgerreich. Von dieser Frage ist auch in der politischen Zeitschrift die Rede, die da auf einmal vor ihm liegt, mitten im Krieg.
Der Physiokrat erscheint monatlich, in einer kleinen Auflage von etwa 600 Stück. Herausgeber und einer der wichtigsten Autoren ist Silvio Gesell, geboren 1862, ein Kaufmann, Vegetarier und ökonomischer Autodidakt mit einer seltsamen Idee: Er behauptet, das Grundübel aller Finanzen liege darin, dass Geld anders sei als Eisen. Man kann es lagern, solange man will. Es fängt nicht an zu rosten.
Im Gegenteil, es gewinnt an Wert. Wer sein Geld hortet, wer es anlegt, kann Zinsen kassieren und Zinseszinsen und dabei vergessen, dass irgendjemand die Rendite erwirtschaften muss. Arbeiter, Angestellte, Manager. Solange die Unternehmen genug Gewinne machen, geht alles gut. Aber irgendwann, da werden der größte Fleiß und die besten Ideen nicht reichen, um Zinsen und Zinseszinsen zu zahlen, und dann platzen die Kredite, gehen die Firmen pleite.
Mit dem Ende des Krieges werde das Elend nicht vorbei sein, ahnt Gesell. Nicht Kanonen und Panzer würden die Menschen dann ins Unglück stürzen, sondern Börsen und Banken.
Der Physiokrat fällt der Kriegszensur zum Opfer. Gelesen wird er trotzdem. Unterguggenberger findet Gesells Ansichten interessant, überzeugt ist er noch nicht. Viele Leute behaupten vieles in diesen letzten Tagen der Monarchie. “Gesell war der Meinung, das Geld dürfe der Vergänglichkeit alles Irdischen nicht länger entzogen werden, dann werde es der Welt besser gehen”, sagt der deutsche Ökonom und Gesell-Experte Werner Onken. Eine ganze Theorie konstruiert Gesell um diesen Gedanken herum. Die sogenannte Freigeldlehre. Aber was soll das bedeuten, vergängliches Geld? Wie bringt man Geld zum Rosten?
Jahre später, 1929, passiert das, was Gesell vorausgesehen hat. In New York bricht die Börse zusammen. Spekulanten stürzen sich aus dem Fenster, Banken gehen pleite. Bald ziehen hungernde Arbeitslose durch Amerika, während die Lokführer ihre Züge mit Weizen befeuern, weil niemand mehr Getreide kauft.
Unterguggenberger liest in der Zeitung von der großen Krise. Er überlegt: Wie bringt man es fertig, dass das Geld wieder zirkuliert, dass es bei den einfachen Leuten ankommt, anstatt ewig auf irgendwelchen Konten herumzuliegen? Nun könnte man meinen, dass die ökonomischen Grübeleien des Michael Unterguggenberger für den Gang der Dinge eher unwichtig seien. Was kümmert es die Welt, welche Antworten ein Tiroler Lokomotivführer auf finanztheoretische Fragen gibt. Unterguggenberger aber ist längst mehr als nur Lokomotivführer.
Österreich ist jetzt eine Demokratie, und Unterguggenberger sitzt für die Sozialdemokraten im Gemeinderat. Er führt dort die Fraktion, seit den Wahlen von 1928 sind Sozialdemokraten und Bürgerliche in Wörgl gleich stark. Es besteht ein Patt, und anders als heute üblich entscheidet nicht eine Neuwahl über das neue Gemeindeoberhaupt, sondern das Glück. Beim ersten Mal, 1928, fällt das Los auf den Kandidaten der Bürgerlichen, im Dezember 1931 aber wird erneut das Los gezogen. Unterguggenberger gewinnt. Er, der Arbeitersohn, wird Bürgermeister von Wörgl.
Gerade noch rechtzeitig, muss man sagen. Denn die große Wirtschaftskrise, vor deren Hintergrund sich das Wörgler Wunder ereignen wird, hat, von Amerika kommend, längst Mitteleuropa erreicht. Auch Wörgl. Die Zellulosefabrik, die einst 400 Menschen beschäftigte, ist stillgelegt, die Brauerei kämpft ums Überleben, junge Männer mit braunen Hemden und Hakenkreuzbinden marschieren durch die Marktgemeinde und hinauf zu den Almen. Bei den Landtagswahlen 1932 wird die NSDAP in Österreich fast zwanzig Prozent der Stimmen erhalten.