“Vollbeschäftigung ist lächerlich” The European Interview 14.10.2013"/>
Fritjof Bergmann

Vollbeschäftigung ist lächerlich” The European Interview 14.10.2013

Vollbeschäftigung ist lächerlich“

Nur noch zehn Stun­den die Woche arbeit­en? Der Philosoph Frithjof Bergmann hält das für die Zukun­ft  –  und hat dafür gute Gründe. Im Gespräch mit Flo­ri­an Guck­els­berg­er und Veroni­ka Bürklin erk­lärt er, warum er mit seinem Konzept der Neuen Arbeit in Deutsch­land und Öster­re­ich gegen Wände rennt. 

The Euro­pean: Herr Bergmann, was hal­ten Sie von dem Begriff Vollbeschäftigung?
Bergmann: Das ist vor allem ein Begriff, den ich mit Europa verbinde. Er bedeutet für mich, den Kopf in den Sand zu stecken.
The Euro­pean: Wie meinen Sie das?
Bergmann: Es ist der Ver­such, weit­erzu­machen und sich nicht mit den Tat­sachen abzufind­en. Das Gerede von Vollbeschäf­ti­gung ist vielmehr ein Beruhi­gungsmit­tel. Wer so viel reist wie ich, der durch­schaut das. Ich war beispiel­sweise vor Kurzem in Rus­s­land, und auf meine Frage, wie hoch denn die Arbeit­slosigkeit in Moskau oder St. Peters­burg sei, erhielt ich die Antwort: „In etwa 90 Prozent“. Das kann natür­lich nicht ganz stim­men. Aber auch in Südafri­ka, dem Land, in dem ich am öftesten gear­beit­et habe, sprechen die Men­schen ohne zu Zwinkern von 70 bis 75 Prozent Arbeit­slosigkeit – ent­ge­gen den offiziellen Behauptungen.
The Euro­pean: Und wenn Sie dann wieder in Europa sind?
Bergmann: Dann erscheint Vollbeschäf­ti­gung wie ein absur­der Traum. Ich spitze natür­lich absichtlich zu. Aber man wun­dert sich, dass es ganz offen­sichtlich noch solche Oasen auf der Welt gibt. Län­der, in denen man die Wahrheit offen­sichtlich nicht hören will. Die Idee, mit wirtschaftlichem Wach­s­tum die Arbeit­slosigkeit abzuschaf­fen, ist lächer­lich. In Län­dern wie Sim­bab­we oder Kon­go erscheint das wie ein Witz. Das nimmt doch kein Men­sch ernst. Und den­noch tun die Regieren­den so, als ob es möglich sei.

Viele Studenten glauben, dass bereits Höhlenmenschen Stechuhren hatten“

The Euro­pean: Sie diag­nos­tizieren also eine Krise der Lohnarbeit.
Bergmann: Ger­ade in der europäis­chen Diskus­sion wird oft überse­hen, dass das gesamte Sys­tem der Arbeit gegen Geld ger­ade ein­mal 200 Jahre alt ist. Vielle­icht ist selb­st diese Schätzung noch zu hoch. Wenn ich an ein­er deutschen Uni­ver­sität darüber rede, beschle­icht mich oft der Ein­druck, dass die Stu­den­ten glauben, bere­its die Höh­len­men­schen hät­ten Stechuhren gehabt. Das ist doch bizarr! Selb­st Thomas Jef­fer­son, ein­er der Grün­dungsväter der USA, war Zeit seines Lebens der Auf­fas­sung, dass Bauernar­beit unver­gle­ich­lich wertvoller sei als Lohnarbeit.
The Euro­pean: Warum haben wir Deutsche das Ihrer Mei­n­ung nach noch nicht begriffen?
Bergmann: Ich sehe in Deutsch­land eine beson­dere Gefahr, da Lohnar­beit hier beson­ders tief ver­wurzelt ist. Ein­fach, weil der Sozial­is­mus – sym­bol­isiert durch das bär­tige Gesicht von Karl Marx – bekan­nter und ver­bre­it­eter ist als etwa in den USA. Der Sozial­is­mus scheint hier weniger tot als dort. Es gab also fol­glich die Bemühung, eine andere, men­schlichere, Form der Lohnar­beit zu entwick­eln. Diesen eher pos­i­tiv­en Blick auf sozial­is­tis­che Ideen hat es in Ameri­ka nicht gegeben.
The Euro­pean: Ihre Alter­na­tive ist die soge­nan­nte „Neue Arbeit“. Wie müssen wir uns das vorstellen?
Bergmann: Mir geht es um ein gemis­cht­es Arbeitssys­tem, das sozusagen nicht alles auf eine Karte set­zt. Am Anfang ste­ht eine Dre­it­eilung: Zwis­chen sieben und zehn Stun­den je Woche betreibt der Men­sch hochtech­nol­o­gis­che Selb­stver­sorgung. Ich war sel­ber drei Mal im Leben Bauer und halte die Idee der Selb­stver­sorgung, Eier, But­ter und Fleisch selb­st herzustellen, für sehr viel men­schlich­er als die Mühlen der Lohnar­beit. Auch die Debat­te um den 3D-Druck­er zeigt das: Da geht es natür­lich um viel mehr als Lebens­mit­tel, etwa Organe oder Ersatzteile für Autos. Weit­ere sieben bis zehn Stun­den je Woche gehen wir der tra­di­tionellen Lohnar­beit nach – ohne Geld geht es eben nicht. Das dritte Ele­ment der „Neuen Arbeit“ schließlich ist das, was man „wirk­lich, wirk­lich tun will“ – damit meine ich den Herzenswun­sch, die Beloh­nung. Das, worauf wir echt stolz sind. Jed­er Men­sch sollte die Möglichkeit haben, solche Art von Arbeit zu tun.
The Euro­pean: Also ein anderes Wort für Hobby?
Bergmann: Nein. Schon Hegel hat von der „Armut der Begierde“ geschrieben: Sehr vie­len Men­schen fällt es unglaublich schw­er, her­auszufind­en, was sie wirk­lich, wirk­lich wollen. Ein Hob­by ist etwas, was man häu­fig tut, weil man zu faul ist, her­auszufind­en, was man wirk­lich, wirk­lich will. Da genügt dann ein Hob­by. Die „Neue Arbeit“ hinge­gen will viel mehr: Es geht um die Beru­fung des Men­schen. Im Amerikanis­chen hat sich dafür das calvin­is­tis­che Wort „Call­ing“ durchge­set­zt. Es beschreibt das Gefühl, etwas zu tun, was mich erst zum Men­schen macht.
The Euro­pean: Ide­al­er­weise fall­en Beruf und Beru­fung doch zusam­men. Lohnt es also nicht viel mehr, die Qual­ität der Arbeit­splätze selb­st ins Auge zu fassen?
Bergmann: Die drei Aspek­te der „Neuen Arbeit“ sind natür­lich nicht voll­ständig voneinan­der zu tren­nen. Ein gutes Beispiel ist das Offene Tech­nolo­giela­bor OTELO in Oberöster­re­ich. Hier prak­tizieren wir genau das, was Sie ger­ade vorgeschla­gen haben. Die Leute wer­den dazu ein­ge­laden, das zu tun, was sie wirk­lich, wirk­lich wollen und damit auch noch Geld zu ver­di­enen. Auch wenn das oft leichter gesagt ist als getan.

Was Menschen wirklich, wirklich wollen“

The Euro­pean: Befür­worter des Bedin­gungslosen Grun­deinkom­mens – etwa Götz Wern­er in unser­er let­zten Titelde­bat­te – ver­weisen immer wieder auf die resul­tierende ökonomis­che Unab­hängigkeit. So wür­den Men­schen ermächtigt, ihren Leben­sun­ter­halt mit ein­er Arbeit zu ver­di­enen, die sie tun wollen – und nicht tun müssen. Deckt sich das mit Ihren Vorstel­lun­gen von erfüll­ter Arbeit?
Bergmann: Ich kenne Her­rn Wern­er seit langer Zeit, und wir haben da unsere Dif­feren­zen. Ich glaube nicht, dass man Men­schen mit Geld zu dem bringt, was sie wirk­lich, wirk­lich wollen. Ich habe viel mit amerikanis­chen Ure­in­wohn­ern gear­beit­et, und die haben ja heute schon ein solch­es Grun­deinkom­men, da sie von der US-Regierung Entschädi­gun­gen für einst ger­aubtes Land erhal­ten. Und trotz dieser Frei­heit stellen sie aller­lei schreck­liche Dinge an – sex­uelle Gewalt, häus­liche Gewalt, Alko­holmiss­brauch. Wenn man Men­schen regelmäßig einen knapp zum Leben aus­re­ichen­den Betrag über­weist, dann hat das furcht­bare Kon­se­quen­zen. Ein zweit­er Punkt ist die Zeit, bis die ver­meintlich pos­i­tiv­en Effek­te des bedin­gungslosen Grun­deinkom­mens greifen. 30 Jahre – so die Prog­nose – sind aber viel zu lang, so viel Zeit haben wir nicht.
The Euro­pean: Zwei Gege­nar­gu­mente: Die Höhe des Grun­deinkom­mens ist natür­lich entschei­dend. Es muss schon ein wenig mehr sein als das absolute Über­lebens­min­i­mum. Und im Fall der Ure­in­wohn­er spie­len auch weit­ere Fak­toren eine Rolle, etwa die struk­turellen Prob­leme beim Zugang zu Lebenschancen.
Bergmann: Natür­lich, aber ver­gle­ich­bare Ver­suche in Afri­ka waren ähn­lich ent­muti­gend. Wenn das Geld knapp wird, und das passiert natür­lich unweiger­lich, sieht man die großen Schwächen dieses Modells.
The Euro­pean: Ver­ste­hen die Men­schen Ihr Konzept der „Neuen Arbeit“?
Bergmann: Seit ich das Pro­gramm in den frühen 1980er-Jahren entwick­elte, habe ich immer wieder damit zu kämpfen, dass die Men­schen es auf ein oder zwei Schlag­worte reduzieren wollen. Das war von Anfang an das Gegen­teil von dem, was ich wollte. Es ging mir immer darum, etwas zu entwer­fen, was nicht sofort zu ver­ste­hen ist. Etwas, das wirk­lich neu ist. Anders als der Kap­i­tal­is­mus, anders als der Sozial­is­mus. Und das mag trotzig klin­gen, aber ich hat­te recht: Wed­er Kap­i­tal­is­mus noch Sozial­is­mus haben die Jahrzehnte heil über­standen. Wenn wir nicht wirk­lich etwas Neues erfind­en, wird es zu ein­er Katas­tro­phe kommen.
The Euro­pean: Sie haben geschrieben, Lohnar­beit verkrüp­pele den Men­schen – und zwar 20 Jahre, bevor sich heutige Debat­ten zur Arbeitswelt um Schlag­worte wie „Burn-out“ und „Work-Life-Bal­ance“ drehen. Hört man Ihnen heute eher zu?
Bergmann: Hät­ten mir die Leute nicht zuge­hört, hätte ich wohl schon längst aufge­hört. In mein­er Vorstel­lung sind Deutsch­land und Öster­re­ich Oasen und ganz anders als der Rest der Welt. In Rus­s­land, Indi­en, Chi­na und den afrikanis­chen Län­dern ist die Sit­u­a­tion ganz uner­hört anders, und über­all dort wird mein Konzept der „Neuen Arbeit“ auch viel eher akzep­tiert. Die Deutschen denken noch immer, irgend­wann käme sie schon, die Vollbeschäf­ti­gung. Vor allem jet­zt, wo sich die Kon­junk­tur erholt. Kein Afrikan­er würde Ihnen diese Erzäh­lung abkaufen.
The Euro­pean: Wie wür­den Sie die let­zten drei Jahrzehnte Ihrer Arbeit bilanzieren?
Bergmann: Ich werde immer häu­figer von Regierun­gen ein­ge­laden. Let­ztens etwa in Lesotho. Und ich merke, dass mir zuge­hört wird. Ich selb­st war ein schlechter Schüler – wie so viele andere Men­schen, und ich kann kaum glauben, dass mir diese erlaucht­en Men­schen heute tat­säch­lich zuhören. Als ich anf­ing, über die Arbeit nachzu­denken, war ich stark von Albert Camus bee­in­flusst. Und der sagte, das Leben sei sinn­los. Da dachte ich mir: Wenn es tat­säch­lich sinn­los ist, machen wir doch das Beste draus. Dann habe ich aus dem Nichts her­aus ein neues Gesellschaft­skonzept entwick­elt: Geht es noch sinnlos­er? Mir wurde aber schon 1980–1981 klar, dass aus mein­er schein­bar sinnlosen Idee doch etwas wer­den würde, worüber die Leute nachdenken.
The Euro­pean: Sie haben als Teller­wäsch­er, Preis­box­er, Selb­stver­sorg­er und Philoso­phiepro­fes­sor mehrerer Ivy-League-Uni­ver­sitäten gear­beit­et. Was davon haben Sie wirk­lich, wirk­lich gerne gemacht?
Bergmann: Es gab viele Sit­u­a­tio­nen in meinem Leben, in denen ich Nein gesagt habe. Schon als 17-Jähriger war mir klar, dass ich trotz protes­tantis­chem Eltern­haus nicht als Pfar­rer arbeit­en will. Immer wenn ich Nein gesagt habe, habe ich etwas gemacht, was ich wirk­lich, wirk­lich wollte. Als ich meine ver­meintliche Traumpro­fes­sur in Stan­ford annahm, wurde mir nach weni­gen Monat­en klar, dass es dieser Job ein­fach nicht ist. Davor hat­te ich schon Prince­ton abge­sagt. Nein danke, das ist nicht das, was ich wirk­lich, wirk­lich will.